BESCHLUSS
„Deshalb wird es uns zur Kraft, wenn wir uns erinnern was geschehen“
Erklärung des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum Berlin
zum 20-jährigen Mauerfalljubiläum
Mit Dankbarkeit blicken wir zurück auf die Ereignisse in Deutschland im Herbst 1989. Frauen
und Männer in der DDR haben mit Mut und Entschlossenheit und mit vielfältiger solidarischer
Unterstützung von Menschen aus dem Westen für ihre Rechte und die Überwindung der Diktatur
gekämpft und gebetet. Ihrem ungebrochenen Freiheitswillen ist es zu verdanken, dass
schließlich Wirklichkeit wurde, was wir lange nicht zu träumen wagten: Am 9. November 1989
fiel über Nacht eine unzerstörbar geglaubte Grenze, die über 1.000 Menschen das Leben gekostet
und Schmerz und Leid über viele Familien gebracht hatte. Mit großer Anerkennung würdigen
wir das Engagement der Schwestern und Brüder in der evangelischen Kirche, die dem
Protest Raum gab und den Protestierenden Räume zur Verfügung stellte, in denen sie sich versammeln
konnten. Stellvertretend für die vielen Gemeinden sei die Gethsemane-Kirche in
Prenzlauer Berg genannt, die in Berlin schon in den 80er Jahren bekannter Sammelpunkt für
Oppositionelle und Anhänger der DDR-Friedensbewegung war. Viele Katholiken in der DDR
bereiteten Ende der 80er Jahre mit ihrem Engagement im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit,
Frieden und Bewahrung der Schöpfung den Wandel der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse
mit vor. Nicht zuletzt würdigen wir in Dankbarkeit die Rolle von Papst Johannes Paul
II. und Michail Gorbatschow als bedeutende Wegbereiter der Wende. Nach dem Mauerfall beteiligten
sich katholische und evangelische Christinnen und Christen maßgeblich am Aufbau
demokratischer Strukturen unter den Bedingungen einer freiheitlichen Gesellschaft. Dabei spielten
u. a. die Aktionsausschüsse katholischer Christen in der DDR eine nicht unwesentliche Rolle.
Wenn wir in Dankbarkeit zurückblicken, so dürfen wir den Blick vor den Herausforderungen, die
sich uns heute stellen, nicht verschließen. Auch 20 Jahre nach dem Fall der Mauer zwischen
den beiden deutschen Staaten bestehen weiter Mauern zwischen den Menschen, die es zu
überwinden gilt.
Die innere Einheit unseres Landes ist noch nicht vollendet. Die wechselseitigen Vorurteile sind
nach wie vor groß. Unverhohlen werden Stimmen laut, die sich die Mauer wieder zurückwünschen,
das Unrechtssystem der DDR bagatellisieren und eine vermeintliche soziale Sicherheit
in der DDR verklären. Mit Sorge erfüllt uns, dass selbst junge Menschen, die nach der Wiedervereinigung
geboren wurden, andere nach den Kategorien Ost und West einordnen und bewerten.
Die Freude und das Glück der Wende scheinen zu verblassen und in Vergessenheit zu
geraten. Doch es gilt die Warnung Erich Kästners: "Wer das Gute vergisst, wird böse, wer das
Schlechte vergisst, wird dumm." Gegen das Vergessen ist die Erinnerung zu setzen. Dabei
kommt es auf jede und jeden von uns an, in unseren alltäglichen Lebenszusammenhängen das
Glück und die Freude der Wende im Herbst 1989 in lebendiger Erinnerung zu halten und die
wechselseitigen Vorurteile zurückzuweisen. Die Erinnerung an unsere Geschichte, der gegenseitige
Respekt vor den unterschiedlichen Lebenswegen und das Vertrauen in eine Zukunft, die
nur gemeinsam gelingen wird, kann für unser Land zur Kraft werden, die noch notwendigen
Schritte zur inneren Einheit zu gehen.
Der Mauerfall hat Auswirkungen über die Grenzen Deutschlands hinaus. Er ist ein Ereignis,
dass die politische Situation in Europa grundlegend verändert hat. Das Verhältnis insbesondere
zu unseren östlichen Nachbarn konnte neu bestimmt werden. Im 70. Jahr nach Beginn des
Zweiten Weltkriegs schauen wir ganz besonders nach Polen. Nach leidvollen Erfahrungen verbindet
uns in den letzten Jahrzehnten – nicht zuletzt angestoßen durch den unvergesslichen
Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe im November 1965 – eine Zeit der Annäherung
und Versöhnung. Und doch zeigen die in den letzten Jahren immer wieder auf beiden
Seiten entflammten Diskussionen über Krieg und Vertreibungen, wie schwer die alten Wunden
nur vernarben. Wir sind zutiefst der Überzeugung, dass nur der unbedingte Wille zur Versöhnung
den Frieden sichert. Der Vision eines gemeinsamen Europäischen Hauses verpflichtet,
appellieren wir an die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen, immer wieder die Hand
zur Versöhnung auszustrecken. Unser Appell ist getragen von dem Wissen um die großen Verdienste
des polnischen Volkes, das mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc zum Wegbereiter
der friedlichen Revolution in der DDR wurde.
Der Einsatz für Demokratie und Freiheit bleibt auch heute notwendig. Wir rufen dazu auf, die
Demokratie in unserem Land durch Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte und Einmischung in
den politischen Diskurs zu stärken. Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung – die
Themen der Ökumenischen Versammlungen – bleiben eine Herausforderung auch für die
Christinnen und Christen des 21. Jahrhunderts.
Vor 20 Jahren fiel die Mauer zwischen Ost und West und brachte Freiheit für die Menschen in
der DDR. Diese Freiheit ist für Ost wie West kein selbstverständliches Gut. Deshalb bleibt die
Mahnung von Kardinal Sterzinsky als Bischof von Berlin in seiner Predigt am 12. November
1989 gültig: „Wir werden es in der Zukunft erleben: Die Freiheit, die wir von Natur aus haben,
müssen wir uns täglich erobern, um sie zu verdienen.“