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„Ich fürchte, dass wir wichtige Dinge übersehen.“

Die COVID19-Pandemie stellt auch viele Gläubige und ehrenamtlich Engagierte im Erzbistum Berlin vor große Herausforderungen. Wir haben darüber mit Marie-Hélène Müßig gesprochen. Sie ist Mitglied im Vorstand des Diözesanrats und engagiert sich in ihrer Heimatgemeinde St. Ludwig in Berlin-Wilmersdorf.

Liebe Frau Müßig, in Ihrer Heimatgemeinde St. Ludwig stand das Pastoralteam schon sehr frühzeitig aufgrund des Kontaktes zu einer COVID19-Infizierten unter Quarantäne. Wie hat sich das auf das Gemeindeleben ausgewirkt?

Seit dem 13.März stehen unsere Seelsorger unter Quarantäne, einer von ihnen ist – zum Glück mit einem milden Verlauf – sogar selbst an dem Virus erkrankt. Dies hatte zur Folge, dass das Gemeindeleben zum Erliegen kam: Die Kirche und das Pfarrzentrum wurden bis auf weiteres geschlossen. Nur ein Diakon und der Pastoralassistent sind zwar noch draußen unterwegs. Seit dem 23. März wurde die Kirche wieder tagsüber geöffnet. Dies wird gut angenommen, das sieht man an der Anzahl der Kerzen, die jetzt wieder in der Kirche brennen.

Seitens der Seelsorger kommen Nachrichten über ihr Wohlbefinden über die Homepage der Gemeinde. Vor kurzem veröffentlichten sie ein „Corona-Lied“, das sie – anscheinend vor lauter Langeweile – gedichtet hatten. Und ihre Fastenpredigten stellen sie auch online. Unser Kirchenmusiker stellt „das neue Lied der Woche“ als Impuls auf die Homepage. Glücklich sind diejenigen, die das Internet als ihr täglicher Begleiter sehen. Leider gibt es noch, auch in Sankt Ludwig, viele, denen das Internet nicht geläufig ist. Da hilft nur Mundpropaganda, mit dem nötigen Abstand.

Ich gebe zu, dass der Gedanke, an den österlichen Feiertagen keinen Gottesdienst physisch beiwohnen zu können, mich schmerzt. Es sind bei uns immer ganz besondere Gottesdienste, sie werden fehlen.

 

Wie begehen Sie den Sonntag mit Ihrer Familie?

Leider ist meine Familie auf meinen Mann reduziert, da unsere Kinder uns nicht mehr besuchen oder sehen können aus Rücksicht auf unserem Alter! Daher ist der Sonntag jetzt ein sehr öder Tag ohne Kinder und Enkelinnen. Ich habe am ersten Corona-Sonntag eine Art Gottesdienst-Hopping gemacht: RBB, ZDF und die Homepage von Maria unter dem Kreuz. Letzten Sonntag habe ich mich mit dem RBB begnügt.

 

Welche Herausforderungen für die Seelsorge nehmen Sie wahr?

Zu der Zeit als unsere Kirche geschlossen war, habe ich viele Personen gesprochen, die ein echtes Bedürfnis hatten, in die Kirche hineingehen zu können für ein kurzes Gebet oder um eine Kerze anzuzünden. Die Nachricht, dass die Kirche jetzt wieder offen ist, hat bei vielen große Freude und Erleichterung gebracht. Für viele ist es noch nicht angekommen, dass wir auch die Feiertage von Gründonnerstag bis Ostern nicht werden feiern können wie gewohnt. Ich hoffe sehr, dass wir eine Lösung finden werden, die Übertragung von den Gottesdiensten aus unserer Kirche wie unsere Nachbargemeinde, Maria unter dem Kreuz, zu ermöglichen.

 

Sie sind u.a. im Kirchenchor engagiert. Wie gehen Sie mit der langen Zwangspause um? Übt nun jede und jeder für sich allein?

Seitdem wir nicht mehr singen können, schicken wir, der Vorstand vom Kirchenchor, dem Chor wöchentlich Newsletter mit Nachrichten aus dem Chor, aus der Gemeinde, aus dem Erzbistum, die Geburtstage der Woche , eine Ableitung über die Komponisten der Stücke, die wir nun nicht bald singen werden - wir bereiteten zum Karfreitag die Passion nach Johannes von Schütz und die Missa di Gloria von Puccini zu Ostern vor - und mit einer Karikatur oder einem Witz. Wer keine Mails bekommen kann, bekommt die Newsletter gebracht. Ich versuche auch diejenigen aus dem Chor anzurufen, die alleinstehend sind, um ihnen die Isolation erträglicher zu machen. Eventuell singen wir jeder zu Hause aber doch gemeinsam. Unser Chorleiter ist da sehr erfinderisch.

 

Sie sind Mitglied im Vorstand des Diözesanrats. Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Arbeit dort?

Die Sitzungen finden nun im Video-Modus statt, was einerseits anstrengend ist, weil die neue Technik in unerfahrenen Händen ihre Tücken hat, andererseits gut, weil sie kürzer sind, die labile Technik hindert einige das Wort zu ergreifen, obwohl alles schon gesagt wurde.

Aber ich fürchte, dass wir vielleicht wichtige Dinge übersehen: erstens müssen wir uns ja persönlich mit der neuen Situation anfreunden und verlieren da weniger Gedanken an Mutter Kirche und ihren Problemen. Zweitens, dadurch dass wir nicht mehr rausgehen, bekommen wir vielleicht nicht alles mit. Was ist z.B. mit den Obdachlosen? Wie könnten wir da helfen? Wäre es nicht unsere Aufgabe, eine Stimme für sie zu sein? Können wir vor lauter Corona die unmenschlichen Umstände in den Flüchtlingslagern übersehen? Wir sind Christen. Müssten wir nicht versuchen, die Politikerinnen und Politiker wach zu rütteln und eine Lösung fordern? Ist das nicht der christliche Leitgedanke, Gott ist für alle da? Hat Jesus nicht immer den Finger in die Wunde gelegt und uns gezeigt, was mit der Liebe Gottes gemeint ist? Wäre es nicht unsere Aufgabe, eine Initiative zu ergreifen, die Stimme in der Wüste zu sein? Und was ist mit den echten Problemen in der Kirche? Haben wir sie noch im Blick oder gibt es da gerade eine Pause?

In jedem Fall lässt mir die Pandemie viel Zeit zum Nachdenken, ob unsere Arbeit die richtigen Prioritäten setzt.

 

Sehen Sie Chancen für das zukünftige Wirken der Kirche nach der Pandemie?

Vielleicht lernen wir in dieser Zeit, wieder mehr miteinander zu arbeiten. Ich finde es super, dass wir jetzt jeden Sonntag einen Gottesdienst erleben können, wo Christen, Juden und Moslems nebeneinander stehen und beten.

Eventuell hatten mehrere Leute Zeit zum Nachdenken und wir erleben in Politik, Kirche, Gesellschaft eine Kurskorrektur, die die Welt dann ein kleines bisschen besser macht. Erleben wir gerade eine moderne Sintflut und danach glitzert alles wie nach einem starken Gewitter? Hoffen ist erlaubt!