Beschluss

Kirche muss ein sicherer Ort für Kinder, Jugendliche, schutz- und hilfe-bedürftige Erwachsene sein.

Aufruf des Diözesanrats zur Aufarbeitung, Intervention und Prävention im Erzbistum Berlin

 

Einführung

Vor 11 Jahren, mit der Aufdeckung des sog. Missbrauchsskandals am Berliner Canisius-Kolleg, wurden die Stimmen von Betroffenen in der katholischen Kirche erstmals in einer der breiten - auch innerkirchlichen - Öffentlichkeit wahrgenommen. In der Folge hatte 2014 die Deutsche Bischofskonferenz das interdisziplinäre Forschungsverbundprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (MHG-Studie) in Auftrag gegeben. Die MHG-Studie zeigt ein erschreckendes und dramatisches Ausmaß an sexualisierter Gewalt, Missbrauch, Leid und Ungerechtigkeit.

Wir als katholische Laien sind Teil der katholischen Kirche. Wir müssen eingestehen, dass auch nicht-geweihte Gläubige Mittäterinnen und Mittäter von klerikalem Missbrauch waren. Sie haben zur Vertuschung und Verdeckung beigetragen oder Betroffenen keinen Glauben geschenkt. Viele erkennen, mit Schweigen, Wegsehen und Unterlassen auch schuldig geworden zu sein. Das Ausmaß dieser Mittäterschaft spät zu erkennen, schmerzt nun sehr. Wir als gewählte Vertreterinnen und Vertreter aller Katholikinnen und Katholiken des Erzbistums Berlin bitten alle Betroffenen sexualisierter Gewalt in unserer Kirche um Verzeihung.

Wir wollen uns unserer Verantwortung stellen und daran mitarbeiten, dass den Betroffenen Gerechtigkeit widerfährt, soweit dies überhaupt möglich ist.

Wir wollen die Prozesse der Aufarbeitung mit vorantreiben und dazu die eigene Rolle in der Vertuschung besser verstehen, um Verhalten zu verändern. Mit Präventionsmaßnahmen wollen wir Haltungen, Kommunikation und Strukturen verändern helfen, damit sich Kinder, Jugendliche und schutz- und hilfebedürftige Erwachsene jeden Geschlechts in sicheren Umgebungen bewegen können.

 

Aufarbeitung

Die Berichte von Betroffenen über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und der Umgang mit diesem haben gezeigt, dass sexualisierte Gewalt durch Priester oftmals von Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträgern vertuscht wurde. Der Schutz der Institution stand für die kirchlichen Verantwortungsträger an oberster Stelle. Dieser Umgang wird von vielen Betroffenen als „zweite Tat“ beschrieben, die für einige genauso traumatisierend wie der eigentliche Missbrauch ist.

Aufarbeitung basiert auf der Annahme, dass erlebte, verschwiegene und vertuschte Gewalt die Gegenwart beeinträchtigt und Unrecht gegenüber betroffenen Menschen ist.[1] Deshalb setzt sich Aufarbeitung mit der Vergangenheit auseinander und bringt Veränderungen in Institutionen auf den Weg, durch die Kinder, Jugendliche und Eltern in der Gegenwart und der Zukunft profitieren. Transparente, unvoreingenommene und schonungslose Aufarbeitung hilft die spezifischen Risikofaktoren in der katholischen Kirche herauszuarbeiten und legt den Grundstein für eine wirksame und nachhaltige Präventionsarbeit.

Aus Sicht des Diözesanrats sollte sich Aufarbeitung im Erzbistum Berlin am Leitfaden zur Aufarbeitung, den die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs herausgegeben hat, orientieren.[2]

Wir fordern:

- Unabhängige Aufarbeitungskommission

  • Wir fordern von der Bistumsleitung höchste Priorität bei der Einrichtung einer Kommission im Sinne der “Gemeinsamen Erklärung des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Deutschen Bischofskonferenz“.
  • Betroffenenvertreterinnen und -vertreter und Mitglieder des Diözesanrats sind von Anfang an bei der Gestaltung der unabhängigen Aufarbeitungskommission zu beteiligen.

- Gutachten „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946“

  • Die Empfehlungen der begutachtenden Rechtsanwaltskanzlei sind durch die Bistumsleitung zu prüfen und die Ergebnisse dieser Prüfung kurzfristig umzusetzen.
  • Es braucht Transparenz über die Arbeit und Entscheidungen der durch die Bistumsleitung eingerichteten Gutachten-Kommission. Die Ergebnisse der Gutachten-Kommission sind öffentlich zu machen und mit einem Zeit- und Maßnahmenplan, der mess- und überprüfbare Ziele beinhaltet, umzusetzen.
  • Die Verantwortungsträger bei Vertuschungen und Fehlverhalten sind öffentlich zu benennen.
  • Betroffenen muss Einsicht in die Beschreibung ihres Falls bzw. ihrer Fälle im Gutachten ermöglicht werden.
  • Es soll geprüft werden, ob eine vollständige Veröffentlichung des Gutachtens möglich ist, z.B. in Form von abstrahierten Fallbeispielen.

- Durchführung einer Kampagne „Kein Raum für Missbrauch in den Pfarreien, Gemeinden und Orten kirchlichen Lebens im Erzbistum Berlin“

  • Die Kampagne soll mittels eines Kommunikationskonzeptes die notwendige Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in den (betroffenen) Pfarreien, Gemeinden und Orten kirchlichen Lebens voranbringen.

- Aufarbeitungsstrategien sind in Pastoralkonzepten und in der gelebten Praxis der Gemeinden, Einrichtungen und Verbände zu verankern.

- Entwicklung eines offenen und verbindlichen Gesprächsformats, in dem die Bistumsleitung alle relevanten Themen im Zusammenhang mit Missbrauch diskutiert und in dem die Erkenntnisse zu den systemischen Faktoren aus der MHG-Studie und des Berliner Gutachtens diskutiert werden.

 

Intervention

Wir wollen eine Kirche, die Gott und den Menschen dient, die nicht den eigenen Machtapparat schützt, sondern sich immer und zuerst, eindeutig und parteilich an die Seite der Schwächeren, der Kinder, Jugendlichen Kinder und schutz- und hilfebedürftige Erwachsenen sowie der Betroffenen stellt. Priester und Laien, ehrenamtlich und angestellte Mitarbeitende dürfen niemals wegschauen, sondern müssen kompetent intervenieren. Um den fehlerhaften und verantwortungslosen Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt in Zukunft zu vermeiden, benötigt die katholische Kirche klare Interventionsstrategien.

Wir fordern:

  • Ein verbindliches Krisen- und Kommunikationsmanagement bei Missbrauchsfällen.
  • Offene Information über aktuelle Verfahren und Fälle, selbstverständlich unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte Betroffener.
  • Die Beauftragung mind. einer weiblichen und einer männlichen Ansprechperson für Betroffene auf Bistumsebene.
  • Hilfen für Betroffene in Akutsituationen (Übernahme der Kosten für Beratung und Therapie durch kirchliche und unabhängige, nichtkirchliche Stellen).
  • Transparenz über die Zusammensetzung sowie die Aufgaben und die Tätigkeit des sogenannten Beraterstabes der Bistumsleitung (zumindest ein jährlicher, öffentlicher Bericht).
  • Alle Strukturen, die im Erzbistum mit der Intervention befasst sind, müssen dies auf Grundlage von klaren Anweisungen und Konzepten tun, sie müssen ihre Arbeit in Berichten dokumentieren und in angemessener Form transparent machen.
  • Einheitliche Führung der Personalakten im Erzbischöflichen Ordinariat nach anerkannten Standards. Die ordnungsgemäße und vollständige Aktenführung der Personalverwaltung ist regelmäßig durch unabhängige Wirtschaftsprüferinnen und Wirtschaftsprüfer zu testieren.

 

Prävention

Im Erzbistum Berlin bemühen sich viele Menschen darum, eine Kultur der Achtsamkeit zu fördern und zu stärken, um Kindern und Jugendlichen sichere Räume des Aufwachsens, der Entwicklungsförderung und der Pflege zu bieten. Der Schutz vor sexualisierter Gewalt in katholischen Gemeinden, Einrichtungen, Verbänden und Vereinen muss immer integraler Bestandteil der kirchlichen Arbeit im Erzbistum Berlin sein.[3]

Wir fordern:

  • Es darf in unserem Erzbistum keine Kinder- und Jugendpastoral und keine Arbeit mit Schutzbefohlenen ohne ein aktuelles und transparentes Schutzkonzept geben. Ein wirksames Konzept für die Überprüfung der Umsetzung ist einzuführen.
  • Eine regelmäßige Auseinandersetzung in Pfarreien, Gemeinden und Orten kirchlichen Lebens, wie Kitas, Schulen, Verbänden und Altersheimen mit der im Erzbistum angebotenen Präventionsarbeit.
  • Die Konzepte für den Themenbereich Sexualpädagogik und -moral sind in die Präventionsarbeit einzubeziehen und umzusetzen. Für das Erzbistum ist das sexualpädagogische Konzept für die Kinder- und Jugendarbeit einschlägig.
  • Debatten zum geschwisterlichen Umgang mit vielfältigen Lebensformen und -wirklichkeiten in der kirchlichen Sexualmoral.
  • Die Implementierung von Standards der Präventionsarbeit bereits in der Ausbildung für den priesterlichen Dienst.
  • Offene Auseinandersetzung mit organisationsspezifischen Risikofaktoren wie dem Umgang mit Macht und Klerikalismus, mit Schuld und dem Bußsakrament, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, priesterlichen Lebensformen und Zölibat und der kirchlichen Lehre zu Sexualität.

 

Hilfen für Betroffene

Die professionelle Unterstützung von Betroffenen ist ein zentraler Bestandteil bei der individuellen Bewältigung sexueller Gewalt: Therapeutinnen und Therapeuten, Beraterinnen und Berater helfen dabei, das Geschehene zu verarbeiten. Wichtig dabei ist, dass Hilfe von Anfang an bedarfsgerecht und zielgerichtet ansetzt – und dass ein Vertrauensverhältnis zwischen der oder dem Betroffenen und ihrem oder seinem Gegenüber herrscht.[4]

Wir engagieren uns dafür, dass Betroffene nicht länger als Opfer ausgegrenzt werden. Sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend muss offen thematisiert werden. Wenn betroffene Kinder, Jugendliche oder Erwachsene davon berichten, müssen sie Gehör finden, ernst genommen werden und dürfen keine Angst vor inadäquaten Reaktionen haben. Das Thema muss dauerhafte Aufmerksamkeit in unserer Kirche erhalten.

Als Diözesanrat suchen wir die Zusammenarbeit mit Betroffenenorganisationen und setzen uns nachdrücklich für die gemeinsamen Anliegen ein.

Wir fordern:

  • Betroffene sollen niedrigschwellig die Möglichkeit bekommen sich darüber informieren zu können, welche kirchlichen und welche unabhängigen, außerkirchlichen Angebote es gibt und dass die erforderlichen Kosten für Beratung und Therapie durch das Erzbistum übernommen werden.
  • In den Pfarreien und Verbänden wird auf entsprechende Stellen aufmerksam gemacht, die in unserem Erzbistum Hilfen für betroffene Personen und Systeme anbieten.
  • Die Bistumsleitung soll sich weiterhin für die sofortige Gründung eines Betroffenenbeirats im Erzbistum Berlin einsetzen. Darüber hinaus braucht es Unterstützung bei der Vernetzung und die Bereitstellung von Ressourcen zur Organisation von Selbsthilfeangeboten.

 

Hilfen für (potentielle) Täter und Täterinnen

„Die Arbeit mit Menschen, die sexuellen Missbrauch begangen haben (oder befürchten, dies zu tun), ist eine Form von Prävention. Denn sie zielt darauf ab, zukünftige Taten zu verhindern.“[5]

Wir fordern:

  • Regelmäßige Bekanntmachung sowie die Unterstützung von qualifizierten Beratungs- und Therapieangeboten für erwachsene Personen, die sexuelle Übergriffe begangen haben, durch die Pfarreien und alle relevanten Orte kirchlichen Lebens unseres Erzbistums.
  • Bekanntmachung präventiver Beratungsangebote für Menschen, die sich sexuell von Kindern oder Jugendlichen angezogen fühlen sowie für Jugendliche, die sich sexuell von Kindern angezogen fühlen.

 

Beschlossen von der Vollversammlung des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum Berlin am 13. März 2021 in Berlin.

 

Fußnoten

[1] Vgl. Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.) (2019): Rechte und Pflichten: Aufarbeitungsprozesse in Institutionen. Empfehlungen zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Berlin.

[2] Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.) (2019): Rechte und Pflichten: Aufarbeitungsprozesse in Institutionen. Empfehlungen zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Berlin.